Im Jahr 2016 begann mit dem Friedensabkommen zwischen der Regierung und der FARC, einer ehemaligen Guerilla-Gruppierung, ein hoffnungsvoller Abschnitt in der Geschichte Kolumbiens. Damit fand der 50 Jahre andauernde bewaffnete innerkolumbianische Konflikt zunächst ein vermeintliches Ende. Mit dem Regierungswechsel und der Wahl Iván Duques zum neuen Präsidenten im Jahr 2018 wurde der Traum einer friedlichen Zukunft abrupt beendet, denn die Vereinbarungen des Friedensabkommens wurden fortan nicht weiter eingehalten und umgesetzt. Dies führte bereits im November 2019 zu Massenprotesten, die bis zum Beginn der Corona-Pandemie andauerten. Nach einer Unterbrechung im Jahr 2020 flammten die Proteste am 28. April 2021 wieder auf.
Wie die Regierung auf die Proteste reagiert, berichtet Jaime Bernal González, Präsident des „kommunalen Aktionsgremiums“ (Bezirksvertreter)[1] des Stadtviertels Tierra Firme, Ibagué und Projektkoordinator der Stiftung Concern Universal Colombia, einer Partnerorganisation des BDKJ Aachen und des Diözesanrats Aachen, im Interview. Gemeinsam mit Siobhan McGee ist er Träger des Aachener Friedenspreises 2018.
Das folgende Interview wurde am 29.05.2021, 11:00 Uhr (Kolumbien), 18:00 Uhr (Deutschland) via Zoom geführt.
Anwesend waren: Jaime Bernal González, Projektkoordinator der Stiftung Concern Universal Colombia und Präsident des kommunalen Aktionsgremiums des Stadtviertels Tierra Firme, Ibagué; Christoph Kriescher und Hannah Kriescher.
Die spanische Version der Transkription kann hier eingesehen werden:
Spanische Version Interview Jaime Bernal 29.05.2021
Jaime Bernal González: Es gibt mehrere Auslöser, die aber alle einen gleichen Fokus haben. Es sind drei Krisen, die den Hintergrund der aktuellen Geschehnisse bilden: Einerseits befinden wir uns in einer Krise der Demokratie, einer Krise der politischen Vertretung, und innerhalb dieser in einer sozioökonomischen Krise, von welcher die große Mehrheit der kolumbianischen Gesellschaft betroffen ist. Diese führten zu einer Zunahme der sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Es ist kein Geheimnis, dass das kapitalistische Entwicklungsmodell der Grund hierfür ist. Ungleichheit und Ungerechtigkeit wurden in den letzten 30 Jahren v.a. durch die Ölgewinnung und den Kohleabbau ausgelöst. [schlechte Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung, Ausbeutung durch internationale Konzerne, Anm. d. Übers.]. Es ist auch kein Geheimnis, dass Kolumbien das Land mit der höchsten Ungleichheit in Lateinamerika ist.
All dies hat dazu geführt, dass wir die Situation nicht länger ertragen konnten, und erzeugte den Aufschrei in den kolumbianischen Straßen inmitten der Krise des öffentlichen Gesundheitssystems, die das Coronavirus ausgelöst hat. Es ist kein Zufall, dass der Protest gerade jetzt aufkommt. Vor dieser Krise hatten wir bereits am 21. November 2019 gewarnt, als die gesamte Gesellschaft auf die Straße ging und strukturelle Veränderungen forderte. Die Reaktion auf den Protest war bereits im Jahr 2019 staatliche und parastaatliche Gewalt gegen die Demonstrationen und vor allem gegen junge Menschen. Bereits damals gab es Verletzungen, Folterungen und Tote. Der aktuelle Ausbruch ist also das Wiederaufleben der Situation von 2019, aber auch der Protest gegen die Zunahme der Korruption im Jahr 2020. Diese Auslöser führten uns zum friedlichen sozialen Aufstand, in welchem wir das Recht auf Protest und das Recht auf freie Meinungsäußerung durchsetzen. Die Streiks in Kolumbien wurden einerseits durch jahrzehntelange Regierungsmaßnahmen hervorgerufen, von denen die verarmten Bevölkerungsgruppen der kolumbianischen Gesellschaft nie wirklich profitiert haben. Andererseits richten die Streiks sich gegen die geplanten Reformen (Steuer-, Gesundheits-, Renten-, Arbeitsreform), die die Partei „Centro Democrático“ der kolumbianischen Gesellschaft aufzwingen wollte.
Dazu kommt auch die Zunahme der paramilitärischen Strukturen, die im Dienste des Großkapitals stehen. Auf der anderen Seite, obwohl es nicht konkret angesprochen wurde, war ein wichtiger verschärfender Faktor die Nichteinhaltung des Friedensabkommens durch die Regierung von Präsident Duque. Ich denke, das sind die Gründe, warum die kolumbianische Gesellschaft auf die Straße geht und die uns dazu führen, dass wir uns als Sozial- und Rechtsstaat neu denken müssen.
Jaime Bernal González: Vor dem 28. April setzte sich das Nationale Streikkomitee aus 26 Sektoren auf nationaler Ebene zusammen, in denen große Sektoren, aber auch 29 regionale Komitees und mehr als 300 kommunale Komitees tätig sind. Mittlerweile gibt es über tausend kommunale Komitees. Das Wichtigste hierbei ist, dass sich die Stärke des Gemeinwesens gezeigt hat. Das Nationale Streikkomitee ist für die kommunalen und regionalen Angelegenheiten zu klein geworden, denn es gibt bereits eine Vielzahl von Forderungen an den Staat und an die Regierung und an Präsident Duque. Diese von der großen Mehrheit des kolumbianischen Volkes aufgestellten Forderungen, müssen angemessen und vor allem nachprüfbar sein, denn in den vergangenen Jahren haben die Regierungen Vereinbarungen nicht eingehalten.
Die Forderungen sind von historischer Bedeutung: ein besseres Gesundheitssystem, mehr und bessere Investitionen in das Bildungssystem, mehr und bessere Arbeit, mehr und bessere Investitionen in die Infrastruktur in ländlichen Gebieten, mehr Land zur landwirtschaftlichen Nutzung, mehr Unterstützung für Landwirte und Kleinbauern, die striktere Einhaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sowie des Friedensabkommens, welches fast all diese historischen Forderungen umfasst. Aber der Forderungskatalog für den 28. April 2021 beinhaltete sowohl die Verhinderung der Steuer-, Gesundheits-, Arbeits- und Rentenreformen als auch die Stärkung des nationalen Impfplans gegen COVID.
Mittlerweile besteht der Forderungskatalog aus sieben Punkten:
Ein wesentlicher Punkt, der all dem zugrunde lag, war die Kontrolle der Regierung über die Sicherheitskräfte und das Militär. Die Gewalt gegen die protestierenden Bürger muss unterlassen werden!
Wir müssen auch eines deutlich sagen: Der Generalstreik ist eine Sache und die indigene „Minga“[3] ist eine andere. Beide kooperieren nun miteinander. Die Forderungen der indigenen Völker gehen in eine andere Richtung, wie z.B. Land, Respekt gegenüber der Ethno-Bildung, Respekt gegenüber ihrer eigenen Gesundheit und Respekt gegenüber ihren eigenen Rechten.
All dies wird uns sicherlich einen neuen Sozialpakt ermöglichen, der aus der jetzigen Verfassung hervorgehen muss..
Jaime Bernal González: Dies ist ein sehr tragischer Punkt und er erfüllt mich mit Traurigkeit. Bereits seit den siebziger Jahren gab es in Kolumbien immer wiederkehrende Streiks, ausgelöst durch ähnliche Forderungen, wie wir sie heute sehen. Der Streik von 1977 wird beispielsweise aufgrund der Brutalität von Polizei und Militär gegen Studenten als schrecklichster Streik in der Geschichte Kolumbiens bezeichnet.
Bis dahin hatten wir nicht mit dem Streik vom 21. November 2019 gerechnet, welchen viele Menschen aus der Bevölkerung unterstützten. Eben dieser Streik von 2019 geht jetzt im Jahr 2021 weiter und es ist der längste, der vielfältigste, der umfangreichste, der nationalste, aber auch der gewalttätigste, der repressivste in der gesamten Geschichte der Streiks in Kolumbien. Nicht einmal während der militärischen Repression von 1957 und des Staatsstreichs in Kolumbien war die Gewaltrate so hoch, nicht einmal damals gab es so viele Tote, so viele Verwundete und, was besonders beunruhigend ist, so viele Vermisste.
Die Geschichte in Kolumbien hat gezeigt, dass die Regierungen den Verhandlungsforderungen der Streiks nie nachgekommen sind, und das hat ein größeres Bewusstsein bei den Bürgern, ein größeres Bewusstsein bei der Jugend geschaffen. Die Nichteinhaltung von Vereinbarungen steigt, seit Duque Präsident ist und sich diese Regierung aus einer rechten und rechtsextremen Partei wie dem „Demokratischen Zentrum“ zusammensetzt.
In diesem Streik hat es viele Verletzte gegeben, darunter sind mindestens 90 Prozent junge Menschen zwischen 14 und 28 Jahren. Sie haben ihre Augen verloren, sind gefoltert worden, wurden massakriert, und dass nur, weil sie Veränderungen gefordert haben. Die Gewalt war in Buenaventura sehr hart. Die Gewalt war in Cali sehr hart. Sie war sehr hart in Manizales. Sie war sehr hart in Yumbo, in Buga, in Palmira, in Pereira, in Neiva, in Facatativá, in Pasto, in Ipiales, in Popayán.
Auch in Ibagué gibt es viel Gewalt. Santiago Murillo, ein junger Mann im Alter von 19 Jahren, kam dabei ums Leben. Es gibt viele Verwundete in Ibagué. Besonders nachts ist die mutwillige Gewalt durch Polizei und Militär immens. Viele der Willkürakte gegen öffentliches und privates Eigentum gingen von Zivilisten aus, die bewaffnet waren und von der Polizei geschützt wurden. Auch durch die Präsenz dieser vielen bewaffneten Zivilisten wird die Situation jeden Tag chaotischer
Viele der jungen Menschen, die verletzt werden, sind Jugendliche, die wir die erste, zweite und dritte Linie nennen. Das sind diejenigen, die in den Märschen vorangehen, oft mit Schutzschildern, um dafür einzutreten, dass die staatliche und parastaatliche Gewalt nicht weiter steigt. Diese Regierung verletzt nicht nur die Grundrechte, sie verletzt nicht nur die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Rechte, sondern dieser kolumbianische Staat massakriert einen Teil der Menschheit, er massakriert das Leben selbst.
Jaime Bernal González: Diese Regierung hat schon während des Wahlkampfs und dann bei ihrer Amtsübernahme gesagt, dass sie nicht an das Friedensabkommen glaubten und dass die Dialoge, die zwischen der FARC-EP-Guerilla und dem kolumbianischen Staat stattgefunden hatten, nichts anderes seien als die Überlassung des Staates an Kriminelle. Uns war also bereits klar, dass dieser Regierung Dialoge fremd sein würden und sie sich ihnen gegenüber völlig stumm und taub verhalten würde, egal mit wem sie stattfinden würden. Diese fehlende Dialogbereitschaft der Regierung ist historisch und gründet in der Verortung der Partei „Demokratisches Zentrum“. Aus dem zuvor Geschilderten wird ersichtlich, dass die Dialoge zwischen dem Streikkomitee und der Regierung auf nationaler Ebene langsam waren, um nicht zu sagen, fast nicht existent.
Erst diese Woche, bereits nach dem ersten Streikmonat, wurde eine Vorvereinbarung zur Aufnahme von Verhandlungen zwischen der Regierung und dem Streikkomitee unterzeichnet. Das Kuriose an diesem Prozess war, dass der Verhandlungsführer der Regierung im Moment der Unterzeichnung der Vorvereinbarung zurücktrat, um Präsidentschaftskandidat zu werden. Es gibt nichts Befremdlicheres und Lächerlicheres in einer Regierung, welche eine Vorvereinbarung abschließt, als den Rücktritt des Verhandlungsführers und die dadurch resultierende Unterbrechung der Verhandlungen. Was hat das zu bedeuten? Die Regierung versucht, die Stärke des Streiks und die Verhandlungen zu schwächen, um die Dialoge besser kontrollieren zu können. Grundvoraussetzung für einen Dialog ist allerdings die Einstellung der Gewalt gegen die Demonstranten.
In der Nacht zum 28. Mai hat der Präsident ein neues Dekret zur Erhöhung der Militärunterstützung in sieben Region, in zehn Gemeinden und in zwei Bezirken, wie beispielsweise dem Bezirk Cali Buenaventura erlassen. Der Dialog kommt mit der voranschreitenden Militarisierung Kolumbiens nicht voran und aufgrund dieses Dekrets wird die Gewalt anhalten und somit ist es sehr wahrscheinlich, dass der Streik und die Demonstrationen weitergehen.
Auf regionaler Ebene wirken wir als Concern Universal beim Rat und Komitee für Menschenrechte, Frieden, Versöhnung und Zusammenleben von Tolima mit. Wir verwirklichen unsere Arbeit als Pazifisten, die wir sind, an die wir glauben, damit es einen Dialog geben kann. Einige der Ideen wurden von den Institutionen angenommen, darunter der vom Gouverneur initiierte soziale Dialog. Dieser soziale Dialog auf Regionalebene ist jedoch nicht sehr überzeugend, weil er keine grundlegenden und strukturellen Lösungen vorsieht.
Auf der kommunalen Ebene von Ibagué, in welcher wir auch im Menschenrechtsrat und -ausschuss vertreten sind, war der Dialog sehr viel schwieriger. Zunächst wegen des Todes von Santiago Morillo. Zweitens, weil die zivilen Behörden, d.h. der Bürgermeister selbst, die Polizei- und Militärbehörden unterstützt hat, anstatt das Recht auf Protest und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu stärken. Das hat ein großes Misstrauen gegenüber Verhandlungen erzeugt. Hinzuzufügen ist, dass fast alle vier Gruppen, die die Streiks und Märsche in Ibagué anführen, für die Amtsenthebung des Bürgermeisters demonstrieren. Es war dementsprechend nicht möglich, mit dem Bürgermeisteramt zu verhandeln. In der Nacht zum 28. Mai gab es viele Verletzte, viele Verhaftete und wir sehen den Beginn von Verhandlungen nicht. Der einzige Verhandlungsversuch, den der Bürgermeister unternahm, fand an einem unpassenden Ort statt, zudem er junge Leute einlud, die aber nichts mit dem Protest zu tun hatten, sondern eher aus den politischen Parteien kamen, die für ihn gestimmt hatten. Das wiederum erzeugte mehr Unzufriedenheit. Den Demonstranten missfiel ein Satz in einer der Mitteilungen sehr, in welchem der Bürgermeister sagt, dass er an den Gott der Armeen glaube und dass dieser Gott derjenige sei, der zugunsten der Polizei und der staatlichen Institutionen handle, um alle Ausschreitungen der Polizei zu entschuldigen.
Jaime Bernal González: Nun, was ich vorhin sagte, ist, dass die Krise der Demokratie von Präsident Duque und der Regierungspartei, dem „Demokratischen Zentrum“, erzeugt wurde. Die fehlende Umsetzung des Friedensabkommens hat zu einer allgemeinen Unzufriedenheit geführt. Was für Folgen hat das? Einerseits beinhaltet das Friedensabkommen alles, was auf der Straße gefordert wird, und schreibt dies in seinen sechs Punkten fest. Im Friedensabkommen wurden beispielsweise auch Vereinbarungen zum Protest getroffen, welche jedoch weder von der Regierung noch von den Parlamentariern umgesetzt wurden. Auch die Frage nach gerechter Landverteilung ist auch nicht weitergekommen. Die Wiedereinführung des Friedensabkommens ist ein Schlüsselelement für den neuen Sozialpakt im Rahmen der aktuellen Verfassung. Des Weiteren muss Beachtung finden, dass es zu einer Zunahme der Gewalt gegen Ex-Kombattanten kommen könnte, gegen alle Kämpfer der allgemeinen Partei der FARC.
Die Regierung kriminalisiert die Proteste und stigmatisiert die Jugendlichen als „internen Feind“. Sie wirft ihnen „Stadt-Terrorismus niedriger Intensität“ vor. Die Gewalt könne durch sie zunehmen und sie würden von vielen Ex-Kombattanten unterstützt. Diese vermeintliche Theorie ist willkürlich und wurde weder untersucht noch überprüft. Das könnte dazu führen, dass es unter all diesen Menschen, die sich wirklich für den Frieden einsetzen und engagieren auch zu einem Blutbad kommt. Zusammengefasst denke ich, dass wir als Zivilgesellschaft die vollständige Umsetzung des Friedensabkommens innerhalb des festgelegten Zeitrahmens unterstützen sollten.
Jaime Bernal González: Concern Universal orientiert sich an den Prinzipien der sozialen Rechtsstaatlichkeit und an der rechtlichen und politischen Durchsetzbarkeit von Rechten, insbesondere der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Rechte. Zudem sind wir fest davon überzeugt, und das ist Teil unseres Geistes, sowohl auf organisatorischer Ebene als auch bei allen Menschen, die bei Concern Universal arbeiten, dass Versöhnung und Frieden möglich sind. Die Durchsetzung aller Rechte muss in einem friedlichen Rahmen der Zivilgesellschaft erfolgen. Dazu zählt auch, dass der Staat die Forderungen der Zivilgesellschaft gewaltlos respektiert und dafür einsetzt.
Unsere Projekte wurden durch die Absagen von Präsenzveranstaltungen in den ländlichen, bäuerlichen und indigenen Gemeinden beeinträchtigt. Erstens aufgrund der öffentlichen Gesundheit (Corona-Pandemie) und zweitens haben die durch Unwetter hervorgerufenen schlechten Straßenverhältnisse den Besuch erschwert. Drittens haben mittlerweile auch viele Kleinbauern („Campesinos“) entschieden zu streiken oder begleiten die Märsche. Die indigene Bevölkerung, mit der wir in 16 Gemeinden verteilt auf fünf Städte zusammenarbeiten, befinden sich alle in „Minga“[4]. Die Kinder, die Frauen, die Männer und die Älteren halten an und treten der „Minga“ bei und müssen diese in unterschiedlichen Formen unterstützen.
Der Streik hinderte uns daran, Vorschläge für Projekte zu entwickeln, um die verschiedenen Aktivitäten von Concern Universal in Kolumbien fortzusetzen. Unsere Unterstützung der Streikgruppen erfordert Zeit, Material und Rückhalt. Auch die Teilnahme an Verhandlungen auf städtischer und regionaler Ebene erfolgten stets mit dem Ziel, dass es keine weiteren Verletzungen, keine weitere Gewalt und kein weiteres Verschwinden-Lassen gibt. Wir sind uns der sozio-politischen Situation der Nation bewusst und wir können die Forderungen der Gesellschaft der Bedürftigsten nicht ignorieren. Sie sind diejenigen, denen Concern Universal seine nationalen und internationalen Ressourcen widmet, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, wir konnten ihnen nicht den Rücken zukehren und wir konnten diese Situation nicht leugnen.
Eines möchte ich an dieser Stelle erwähnen, auch wenn dieser Punkt unsere Beziehungen zur katholischen Kirche in Deutschland beeinträchtigen könnte. Ich bin aus der Friedens- und Versöhnungskommission von Tolima, die zur Erzdiözese Ibagué der katholischen Kirche gehört, wegen Differenzen mit dem Erzbischof ausgetreten. Der Erzbischof bzw. die katholische Kirche hat in Tolima ausschließlich die Gemeinde-, Regional- und Landesregierung unterstützt und nicht die Zivilgesellschaft. Er sprach sich gegen die Demonstrationen und den Streik aus und das scheint mir weder mit dem Evangelium noch mit den Grundsätzen der Soziallehre oder der Versöhnungskommission vereinbar. Wir haben eine wohlüberlegte, einvernehmliche Entscheidung getroffen und hoffen, dass sich das nicht auf andere Beziehungen auswirkt. Wir waren uns sicher, dass wir etwas, das gegen die großen Wünsche der kolumbianischen Gesellschaft und der Gesellschaft in Ibagué und Tolima agiert, nicht unterstützen können.
Jaime Bernal González: Ich glaube an eine Sache, die der Papst Franziskus im Forum sagte: Wir müssen die Solidarität internationalisieren, nicht weil wir es sind. Die Solidarität ist eine Angelegenheit der Menschlichkeit, nicht der menschlichen Spezies. Wir müssen diese internationale Solidarität ausbauen.
Eine politische Solidarität wäre zum Beispiel, dass auch die deutschen Parlamentarier ihre Forderung an die kolumbianische Regierung stellen, das Recht auf Protest zu respektieren, aber auch die Gewalt der staatlichen und militärischen Kräfte gegen die Zivilgesellschaft zu stoppen, die protestiert, weil es ihr Recht ist.
Zur religiösen Solidarität: Die Deutsche Bischofskonferenz könnte sich zu der Gewalt gegen die Zivilgesellschaft äußern, da die kolumbianische Kirche größtenteils am Rande und ohne wirkliches Engagement zu den aktuellen Situationen steht. Dort hat zum Beispiel die Bischofskonferenz ein sehr diplomatisches Positionspapier herausgegeben: Sie unterstützen die Forderungen, aber es müsse friedlich bleiben. Aber dass der Staat die Gewalt stoppen muss, wurde nicht erwähnt. Hier in Ibagué gilt Gleiches: Das Einzige, das die katholische Kirche hier sagte, ist, dass wir einen Rosenkranz beten sollen, damit sich das Leben wieder normalisiert.
Was die organisationale Solidarität angeht, könnten wir uns vorstellen, dass die deutschen Organisationen wie der BDKJ und all die anderen ihr Engagement für die kolumbianische Jugend und die Jugendlichen, die Demokratie und ihre Rechte fordern, verstärken können. Zum Beispiel indem sie etwas schreiben und über die Situation hier in Kolumbien informieren, in Zeitungen oder bei Treffen. Zumindest darüber zu reden. Denn dieses Thema der Partnerschaft und der Zusammenarbeit verlangt von uns, dass wir in den Freuden und in den Sorgen beieinander sind. Der Friedenspreis kann hoffentlich eine Stellungnahme zur Unterstützung der Arbeit abgeben, die wir in Kolumbien leisten, sowie die Forderung nach der Erfüllung des Friedensabkommens an die Regierung von Kolumbien. Sie unterstützen bereits das Friedensabkommen. Wichtig ist es, internationalen Druck auf Präsident Iván Duque und die Regierungspartei „Demokratisches Zentrum“ auszuüben.
Jaime Bernal González: Das ist eine sehr ernste Frage, denn das markt- und großkapitalbasierte Entwicklungsmodell schließt Deutschland und die Europäische Union mit ein. Ich denke, dass man einerseits eine Forderung und Stellungnahmen zur Achtung der Menschenrechte in Kolumbien äußern könnte.
Es könnten aber auch über Wirtschaftssanktionen diskutiert werden. Das ist der Punkt, an dem sich die Regierung, einschließlich Präsident Duque, aber auch die traditionelle Führung und die Unternehmensführung in Kolumbien in ihren Interessen angegriffen sehen. Wenn es eine wirtschaftliche Sanktion gibt, bedeutet das, dass etwas nicht gut läuft, dass die Welt sie in einem schlechten Licht sieht und dass es Veränderungen geben muss. Diese wirtschaftlichen Sanktionen könnten zumindest angedeutet werden.
Es gibt eine Sache, die mir sehr ernst erscheint, und das ist der Nichtverkauf von Waffen an die kolumbianische Regierung. Frankreich, Deutschland, alle, die am Verkauf von Waffen an Kolumbien beteiligt sind: Stoppt die Waffenverkäufe an die kolumbianische Regierung, denn wir sehen, wofür die Waffen verwendet werden; nämlich um die Zivilbevölkerung auszulöschen, deren größte Waffe ein Stein ist, deren größte Waffe der Tanz, die Musik oder ihre Stimme, die nach Reformen schreit. Ich wiederhole: keine Waffenverkäufe an Kolumbien!
Eine letzte Forderung wäre die Umsetzung des Friedensabkommens gemäß den getroffenen Vereinbarungen, insbesondere die Beendigung der Gewalt gegen ehemalige FARC-Kämpfer, gegen vom Konflikt betroffene Gemeinden, soziale Verantwortungsträger und Menschenrechtsverteidiger.
Jaime Bernal González: Die Ansteckung hat enorm zugenommen. Zum Beispiel hier in Ibagué: Wir sind bei 95 Prozent Belegung der Intensivbetten. Aber wie die Leute sagen, ist es besser, auf der Straße zu sterben, als im Bett zu sterben. Die Infektion unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat stark zugenommen.
Vielen Dank, Jaime, für die vielen Informationen und
Einblicke, die Sie heute mit uns geteilt haben. Danke für die Vorschläge, wie
auch wir uns beteiligen können, um internationale Solidarität mit (jungen)
Menschen in Kolumbien zu zeigen!
[1] Bei der “Junta de acción comunal” bzw. dem kommunalen Aktionsgremium handelt es sich um eine bürgerliche, soziale und gemeinschaftliche Organisation ohne Erwerbszweck mit eigenem Rechtsstatus, welche sich aus den Bewohner*innen des jeweiligen Stadtteils mit dem Ziel der ganzheitlichen, nachhaltigen und dauerhaften Entwicklung auf Grundlage der partizipativen Demokratie zusammensetzt (Quelle: https://www.funcionpublica.gov.co/eva/gestornormativo/norma.php?i=5301, abgerufen am 09.08.2021)
[2] „Der Begriff Ernährungssouveränität tauchte erstmalig Anfang der 80er Jahre [auf]. […] Allen Völkern der Welt wird damit das Recht auf die eigenständige Produktion und Verteilung von gesunder und kulturell angepasste Nahrung zugesprochen. Die Produktion soll lokal, nachhaltig und unter Achtung der Natur und all ihrer Lebewesen erfolgen. Die Verteilung der Nahrungsmittel stellt lokale Wirtschaftsformen und Märke in den Mittelpunkt. Produktions- und Handelswege sollen transparent und für jeden einsehbar sein. Innerhalb des Konzeptes von Ernährungssouveränität liegen die Nutzungsrechte auf Land, Wasser, Vieh und natürlich auch Saatgut bei denen, die in den Regionen leben und mit den dortigen Ressourcen Lebensmittel produzieren.“ (Quelle: https://www.rightseeds.de/de/ernaehrungssicherheit-und-ernaehrungssouveraenitaet/, abgerufen am 4.8.2021)
[3] „Die Minga ist eine im Andenraum und im angrenzenden östlichen Tiefland verbreitete, aus präkolumbischer Zeit stammende Form freiwilliger kommunaler Gemeinschaftsarbeit, die der gesamten Gemeinde zugute kommt. Heute ist die Minga vor allem in Kolumbien eine massenhafte Protestform meist indigener, aber auch kleinbäuerlicher, afrokolumbianischer und sozialer Bewegungen. Sie kämpfen so gegen Unterdrückung und Repression und für ihre politischen und sozialen Rechte.“ (Quelle: https://www.npla.de/lexikon/minga/, abgerufen am 4.8.2021)
[4] s.o.