Dass es in Deutschland seit vielen Jahren einen Pflegenotstand gibt, also zu wenige Menschen in Pflegeberufen arbeiten, hat viele verschiedene Gründe. Arbeitsmigrant*innen aus Osteuropa unterstützen sowohl in Pflegeheimen, aber auch in privaten Haushalten. Sie sorgen dafür, dass unser Pflegesystem nicht bereits zusammengebrochen ist. Während des ersten Lockdowns wurde erneut deutlich, wie groß die Problematiken in unserem Pflegesystem sind. Auf das Thema Arbeitsmigration in der Pflege und die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in privaten Haushalten geht dieser Text ein.
Im Gegensatz zu anderen Ländern ist in Deutschland das Pflegesystem so aufgebaut, dass für die Pflege von alten, kranken und gebrechlichen Angehörigen zuallererst die Familien verantwortlich sind. Ca. 70 % aller Pflegebedürftigen werden in Deutschland zuhause versorgt, das waren vor fünf Jahren etwa 1,9 Millionen Menschen. Ungefähr 1,3 Millionen Pflegebedürftige werden dabei von ihren Angehörigen gepflegt. Neuere Analysen zeigen, dass alle Zahlen steigend sind.
Die Angehörigen bzw. die Pflegebedürftigen erhalten vom Staat das sogenannte Pflegegeld. Das Pflegegeld ist allerdings nicht als Lohn der Pflegenden gedacht, sondern soll eher motivierenden Charakter haben.
Laut Prof. Dr. Helma Lutz, die im Interview mit bpb die oben genannten Zahlen benannt hat, haben im Bereich der Pflege durch Angehörige (bei ca. 1,3 Millionen! Menschen, Stand 2015) um das Jahr 2000 Migrantinnen, vor allem aus Osteuropa, begonnen, die Pflegeaufgaben im Haushalt der Bedürftigen zu übernehmen. Überall dort, wo Angehörige berufstätig sind und die Pflege nicht übernehmen können oder wollen, wurden und werden über das Pflegegeld Migrant*innen im Haushalt der zu pflegenden Person finanziert.
Wie viele Migrant*innen konkret in der häuslichen Pflege arbeiten, ist allerdings unklar. Man schätzt die Zahl auf 300.000 bis 600.000 Arbeitsmigrant*innen.
Der Bereich der häuslichen Pflege fällt in den Privatbereich und in Deutschland ist und bleibt die staatliche Kontrolle im Privatbereich aus historischen Gründen ausgeschlossen. Neben der nicht vorhandenen Möglichkeit, die Arbeitsbedingungen in privaten Haushalten zu kontrollieren, gibt es weitere Bedingungen, die zu ausbeuterischen Arbeitsbedingungen führen.
Haushaltshilfen/Pflegekräfte, die gegen Entgelt Pflegebedürftige in ihrem Zuhause umsorgen und bei diesen wohnen, sogenannte „Live-In’s“, arbeiten quasi 24/7. Dadurch, dass sie bei den Pflegebedürftigen wohnen, sind sie häufig dauerhaft in Bereitschaft, wenn die Pflegebedürftigen etwas benötigen. Die Live-In’s putzen, kochen, sind Gesellschafter*innen und pflegen. Teilweise übernehmen sie sogar Pflegeaufgaben, die zur medizinischen Grundversorgung gehören und die sie rechtlich eigentlich gar nicht übernehmen dürfen.
Über einen Zeitraum von vier Wochen bis drei Monaten sind sie Rund um die Uhr im Einsatz.
Dabei beträgt das Einkommen der Live-Ins zwischen 700 € und 1600 € im Monat.
Dass die Live-In’s kaum oder gar keine Deutschkenntnisse haben, erschwert nicht nur ihre Arbeit, sondern ist für sie außerdem eine große Hürde, wenn sie sich über ihre Rechte informieren möchten.
Weil Live-In’s dauerhaft bei den Pflegebedürftigen leben, sind sie absolut von den Bedingungen und dem Wohlwollen der Pflegebedürftigen und ihrer Familien ausgeliefert, auch, wenn sie häufig über Agenturen angestellt und die Familien nicht die Arbeitgeber sind. Dass diese Verhältnisse zu prekären Arbeitsverhältnissen führen und extreme Ausbeutung ermöglichen, zeigen die Beispiele, die in der Studie „Geschäftsmodell Ausbeutung. Wenn europäische Arbeitnehmer*innen in Deutschland um ihre Rechte betrogen werden“ der Friedrich Ebert Stiftung (Stand: April 2015) ab Seite 11 geschildert werden. Weitere Beispiele findet ihr ab Seite 19 in der Analyse „Arbeitsausbeutung beenden. Osteuropäische Arbeitskräfte in der häuslichen Betreuung in Deutschland“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte.
Familien, die eine häusliche Pflegekraft suchen, wenden sich meistens an deutsche Vermittlungsagenturen. Diese wiederum arbeiten mit polischen, ukrainischen oder anderen länderspezifischen Vermittlungsagenturen zusammen. Die Live-In’s werden dann in die Familien „entsendet“. Die Familien zahlen Geld an die Agenturen, welche den Lohn wiederum (teilweise) an die Live-In’s weitergeben.
Den Familien wird suggeriert, dass die Pflegekräfte legal in Deutschland sind. Dem ist aber in den meisten Fällen nicht so!
Die Live-In’s auf der anderen Seite sind nicht sozial abgesichert und haben keinerlei Rechte. Die Verträge sind häufig nicht rechtssicher und bilden die tatsächlichen Arbeitsverhältnisse nicht ab.
Weiterhin werden Live-In’s mitunter als Selbstständige beschäftigt oder sie werden direkt im Privathaushalt als Arbeitnehmer*innen angestellt.
Die meisten Frauen, die in der häuslichen Pflege arbeiten, sind in Schwarzarbeit beschäftigt und ohne rechtliche Absicherung in Deutschland.
Seit 2013 hat Deutschland das ILO-Abkommen (Konvention 189 zur Verbesserung der Situation von im Haushalt arbeitenden Migrantinnen) unterzeichnet. Das ist ein Übereinkommen der internationalen Arbeitskonferenz über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte und deshalb zunächst eine gute Nachricht. Allerdings hat Deutschland hat bei der Ratifizierung des Abkommens eine Sonderklausel eingesetzt und die 24-Stunden-Pflege aus dem Schutz herausgenommen. Das bedeutet, dass die 24-Stunden-Pflege nicht als legal gilt, deshalb nicht über das nationale Arbeitsschutzgesetz abgedeckt ist und Migrant*innen deshalb nicht geschützt sind.
Die am 30. Juli 2020 umgesetzte EU-Richtlinie zur Entsendung von Arbeitnehmer*innen im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen wirkt sich ebenfalls zum Großteil nicht auf die Arbeitsverhältnisse der Live-Ins aus. Das liegt zum einen daran, dass die Neuregelungen für längerfristige Beschäftigungen (über 12 Monate) gelten. Außerdem sind die Live-Ins keiner Branche zugeordnet, sodass sie keinen Anspruch auf tarifvertragliche Lohnvereinbarungen haben.
Neben der fehlenden rechtlichen Absicherung fehlt es auch an der gesellschaftlichen Akzeptanz, dass das Konzept der häuslichen Pflegekräfte, wie es derzeit gängig ist, ausbeuterisch und ethisch nicht vertretbar ist. Eine Mitwirkende des Selbsthilfenetzwerkes „Respekt“ aus Heinsberg berichtete in unserer Veranstaltung zum Thema Arbeitsmigration, dass es Familien nicht gerne sehen, wenn sich „ihre“ Pflegekräfte über das Selbsthilfenetzwerk informieren. Politiker*innen, mit denen das Selbsthilfenetzwerk spricht, seien rat- und ideenlos, wie die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der häuslichen Pflege beendet werden könnten. Ihr Fazit: „So wirklich will da keiner ran an das Problem.“ Den Beitrag findet ihr auf unserer Facebookseite ab Minute 47.
Dieser Text spiegelt nur verkürzt die Ausmaße und Problematiken der häuslichen Pflegekräfte aus dem osteuropäischen Ausland dar. Wenn du tiefergehende Studien lesen möchtst, dann ist insbesondere die Analyse „Arbeitsausbeutung beenden. Osteuropäische Arbeitskräfte in der häuslichen Betreuung in Deutschland“ des Deutschen Instituts für Menschenrechte aus dem Jahr 2020 empfehlenswert.
Die 63. Aktion Dreikönigssingen mit ihrem Motto „Kindern Halt geben. In der Ukraine und weltweit!“ und die Bundesweite Eröffnung in Aachen haben uns veranlasst, das Thema Arbeitsmigration in Deutschland genauer zu beleuchten.
Denn „Arbeitsmigration“ ist das tiefergehende Thema, mit dem sich die diesjährige Aktion Dreiköniggssingen am Beispielland Ukraine genauer beschäftigt. Arbeitsmigration bedeutet, dass Menschen in einem anderen als in ihrem Herkunftsland einer Erwerbstätigkeit nachgehen. In der Ukraine ist das häufig der Fall. Mit knapp 42 Millionen Einwohnern gehen nach einer Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation ca. 1,5 Millionen Ukrainer*innen einer Arbeit im Ausland nach. Der Grund dafür ist die schwierige wirtschaftliche Situation in der Ukraine. Armut, mangelnde Einkommensmöglichkeiten, hohe Arbeitslosigkeitszahlen und niedrige Gehälter gehören in der Ukraine zum Alltag. Viele Ukrainer*innen arbeiten deshalb unter ausbeuterischen Bedingungen im Westen Europas und müssen eine Trennung von ihrer daheimgebliebenen Familie in Kauf nehmen. Kinder müssen auf ein Elternteil, manchmal sogar auf beide Elternteile, verzichten.
Text: Jessica Starzetz / BDKJ Aachen